Als lebende Bilder bezeichnet man im Bereich der darstellenden Kunst, wenn „lebende, sich nicht bewegende Personen ... ein Bild aus Mythologie, Bibel, Geschichte oder Kunst“ nachstellen. In Antike und Mittelalter war das Stellen solcher lebender Bilder ein verbreitetes theatralischen Element. Dabei ist im Laufe der Entwicklung eine erstaunliche Bandbreite zu beobachten.Seit dem 12. und 13. Jahrhundert entwickelten sich in der christlichen Kirche vielerorts Kirchenraumspiele: zu Ostern, zum Dreikönigstag (6. Januar), zu Mariä Heimsuchung („Darstellung des Herrn“, 2. Februar] oder zur Flucht der heiligen Familie nach Agypten. Das wichtige der Darstellungen war dabei ihre Bildhaftigkeit. Daneben entwickelten sich Festzüge, in denen fahrbare Bühnenaufbauten und Szenen mitgeführt wurden. Aus Italien ist im 14./15. Jahrhundert der Brauch bekannt, lebende Bilder auch in Predigten zu stellen. Im profanen wie im geistlichen Bereich finden sich seit dem 15. Jh. zahlreiche Berichte über lebende Bilder: in kirchlichen Prozessionen oder beim Einzug von Königen in Städten etwa. Man kann in diesem Brauch Vorläufer noch heute üblicher Festzüge sehen. Enorme Mühe wurde dabei meist auf die Staffage der Darsteller, auf Requisiten, symmetrische Anordnung und panoramentartige Hintergrundmalerei verwandt, die oft plastische Dekorationen vortäuschten.
Großes Gewicht maß seit der Zeit der Gegenreformation das Jesuitentheater lebenden Bildern bei. Diese vielerorts bezeugte Praxis ist für Fulda zwar nicht belegt, aber gut denkbar. Denn auch dort fanden sich unmittelbar nach der Gründung einer jesuitischen Schule im Jahre 1572, wie überall, wo Jesuiten arbeiteten, Theateraufführungen. Wert legten diese Darstellungen vor allem auf sinnenhafte Veranschaulichung. Die Wortverständlichkeit war dem nachgeordnet. Da manche der eigens für Schulzwecke geschaffenen Stücke in lateinischer Sprache aufgeführt wurden, war das Textverständnis ohnehin nur wenigen vorbehalten. Die Kenntnis des Inhalts — vermittelt durch zuvor ausgegebene Programme - genügte dem Gros des Publikums und sorgte für hinreichenden Theatergenuss. Verwandt sind lebende Bilder auch dem weitverbreiteten barocken Brauch, in Leidensprozessionen am Palmsonntag oder Karfreitag zahlreiche alttestamentliche Gestalten und Szenen mitzuführen.
Mit der aufgeklärten Kritik und den daraus resultierenden Verboten solcher drastischen und veräußerlichten Darstellungen Ende des 18. Jahrhunderts wurden auch die lebenden Bilder eingeschränkt. Gleichwohl verschwanden sie nicht völlig: belegt sind sie weiterhin in Oberammergau, doch etwa auch bei einer Faust-Inszenierung im Jahre 1834/35. Um 1800 gewann von Frankreich her auch die Mode Raum, bekannte Gemälde durch Personen als „tableaux vivent“ nachstellen zu lassen.
Wie die Hervorhebung und Würdigung der „alten“ Kirchenlieder und ihre Wiederbelebung, so ist auch Müllers „Wiederentdeckung“ der lebenden Bilder als Überwindung der Aufklärung und Rückkehr zu sinnenfälliger, emotionsreicher Religiosität zu sehen. .‚Es legt den Gedanken nahe, als wolle man allmählich wieder zu den früheren mittelalterlichen Volksspielen zurückkehren“,urteilte in diesem Sinne die Bistumszeitung .‚Bonifatiusbote“ 1901 über die Verwendung von lebenden Bildern insbesondere in den Werken Müllers.
1875, zur Uraufführung seines Weihnachtsoratoriums, verwendete Müller nachweislich lebende Bilder erstmals in Kassel. Für das Entwerfen und Stellen der Bilder gewann Müller in der Regel Experten, so den Historienmaler H. W. Schmitz aus Düsseldorf und die Professoren Knackfuß, Kolitz und Schneider von der königlichen Akademie in Kassel).
Zitiert nach: Dr. Paul Lang: "Heinrich Fidelis Müller" Imhof Verlag Fulda 2005
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